Analysen
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Veröffentlicht von Dennis Kallerhoff

Blaupause für die Digitalisierung – die New York Times in 2020


Journalism That Stands Apart“ ist ein bemerkenswerter Artikel der New York Times zur Zukunft des Journalismus. Eine Gruppe von sieben Redakteuren, die Group 2020, beschäftigte sich die letzten Jahre damit, wie die Times in drei Jahren aussehen muss. Ihre Kernaussage ist: die Zeitung muss sich radikal wandeln, oder sie wird im Jahr 2020 nicht mehr zukunftsfähig sein. Die Journalisten schreiben:

The Times is uniquely well positioned to take advantage of today’s changing media landscape — but also vulnerable to decline if we do not transform ourselves quickly.

Die sieben Journalisten befragten Mitarbeiter der Times sowie externe Experten. Das Ergebnis ist das Beste, was ich zur Zukunft der Medien gelesen habe. Sicher: es enthält die üblichen Passagen à la „wir sind schon gut, müssen aber noch besser werden.“ Allerdings spricht die Group 2020 klare Empfehlungen aus, wie sich das Unternehmen weiterentwickeln muss. Und zeigt die Konsequenzen des Nichtstun auf.

Auch wer nichts mit Journalismus zu tun hat, sollte sich den Artikel – oder diesen Blogpost – durchlesen und teilen. Er enthält Wahrheiten, die auf traditionelle (Multichannel-)Händler genauso zutreffen wie auf den industrielle Hidden-Champion aus dem Schwarzwald. Und natürlich auf Medienhäuser.

Das Zielbild: Wie verdienen wir Geld?

Die Group 2020 schreibt im Report:

We are, in the simplest terms, a subscription-first business. Our focus on subscribers sets us apart in crucial ways from many other media organizations. We are not trying to maximize clicks and sell low-margin advertising against them. We are not trying to win a pageviews arms race.

Dieser Punkt ist wichtig. Nachrichtenpublikationen verlieren heute im Printbereich Umsatz, schaffen es gleichzeitig nicht über digitale Geschäftsmodell ausreichend neue Erlösquellen aufzubauen. News-Websites probieren v.a. durch Werbung den Umsatz zu steigern. Werbe-Umsatz steigt über (a) mehr Reichweite oder (b) höhere Vermarktungserlöse. Höhere Vermarktungserlöse beobachte ich im Markt nicht. Die meisten Publikation versuchen daher ihre Reichweite steigern. Dies passiert durch Clickbaits, also klickstarke Artikel für die breite Masse.

Wer in letzter Zeit den Stern angeschaut hat, weiß wovon ich spreche. Die letzten beiden Facebook-Artikel: „Tinder – nie mehr ‚Hey du‘ – so antwortet euch jedes Match“ und „250 Millionen Dollar! So lebt es sich in der teuersten Villa der USA“. Mit „Sensationsmeldungen“ dieser Art hat der Stern in den letzten Jahren Marktanteile und Reichweite gewonnen.

Wohin das auf Dauer führt zeigt John Oliver in seinem guten Beitrag „Journalism“.

Gute Qualität von Artikeln und hohe Reichweite gehen (leider) nicht immer einher. Aber gerade heute – Trump, AfD & Co – brauchen wir unbedingt unabhängige Medien. Zudem ist eine reine Monetarisierung über Werbung nicht nachhaltig in einer Welt, in der sich Werbegeld zunehmend zu Facebook & Google verlagert – weg von den Websites der Content-Ersteller.

Die New York Times hat sich klar positioniert und gesagt: „Wir sind ein Abo-Geschäftsmodell. Wir möchten, dass Leser für Inhalte zahlen. Das ist unsere Säule der Zukunft.“ Die Bezahlung ist wichtig, damit ein hoher, qualitativer Standard gehalten werden kann. Interessant ist, dass bei der Times der Umsatz über digitale Abomodelle den Umsatz mit Werbung überholt hat. Die Gruppe 2020 sagt:

Make no mistake, this [subscription] is the only way to protect our journalistic ambitions. To do nothing, or to be timid in imagining the future, would mean being left behind.

Die Basis: Daten, Code & Prozesse

Jedes Unternehmen muss sich seines Kerns bewusst sein. Für die New York Times: gute Inhalte mit Mehrwert für zahlende Nutzer schreiben. Das heißt: Inhalte/Projekte, die auf das Ziel „Abonnenten gewinnen“ einzahlen, bekommen mehr Fokus. Inhalte, die nicht auf das Ziel einzahlen, bekommen weniger Ressourcen. Die sieben Journalisten schreiben:

The Times publishes about 200 pieces of journalism every day. This number typically includes some of the best work published anywhere. It also includes too many stories that lack significant impact or audience. […] The most poorly read stories, it turns out, are often the most “dutiful” — incremental pieces, typically with minimal added context, without visuals and largely undifferentiated from the competition […] We devote a large amount of resources to stories that relatively few people read.

Die Einteilung in gute und schlechte Inhalte ist bestimmt nicht einfach. Daten helfen. Es wurden noch nie so viele Metriken erfasst und Daten gesammelt wie heute. Die Journalisten haben zusammen mit Analysten Daten ausgewertet und aus Daten Insights generiert. Daten für sich haben keinen Wert. Daten, die nicht ausgewertet werden und zu keinen Aktionen führen, haben keinen Wert. Nur aus Insights entstehen Aktionen. Für die Times hieß das: sie haben Gemeinsamkeiten von schlechten Artikeln ausgewertet, aufbereitet und werden in Zukunft weniger davon schreiben.

Heißt auch: die Times braucht neue Kennzahlen, um den Erfolg von Artikel zu messen. Die Gruppe schreibt:

The data and audience insights group, under Laura Evans, is in the latter stages of creating a more sophisticated metric than pageviews, one that tries to measure an article’s value to attracting and retaining subscribers. This metric seems a promising alternative to pageviews.

Die richtigen Leute für den digitalen Wandel

Mehr Qualität, bessere visuelle Inhalte, interaktivere Artikel, bessere Einbindung der Nutzer – das sind gute Ziele, die sich allerdings nur mit passenden Mitarbeitern umsetzen lassen. Die Group 2020 schlägt einen Mix aus (a) besserem Training zu digitalen Inhalten für bestehende Mitarbeiter und (b) das Anwerben von neuen Journalisten, Datenmenschen und Grafikern von außerhalb vor. Eine Erkenntnis: digitaler Wandel lässt sich nicht nur mit nicht-digitalen Mitarbeitern machen, die lange im Unternehmen sind. Zumindest nicht in kurzer Zeit, und genau das ist notwendig.

Interessant finde ich den Punkt: Ziele setzen und diese messen. Die Gruppe schreibt:

Ultimately, goals will work only if they are coupled with accountability. The Times should be more willing to expand teams that are thriving, to change course for teams that don’t appear to have the right approach, to shift resources away from teams that appear to be failing and to change leadership when appropriate.

Ich kenne die Unternehmenskultur der Times nicht. Bei solch deutlichen Worten glaube ich aber, dass es einen Shift bedeutet. Es ist der Wunsch nach einer flexibleren Zuteilung von Ressourcen. Etwas, dass traditionellen Unternehmen und etablierten Mitarbeitern wahrscheinlich schwerfällt. Und es ist der Ruf nach Konsequenz bei Versagen.

Neues Verhältnis zu Print

Spannend finde ich den Abschnitt zum Thema Print. Die gedruckte New York Times hat (noch) viele loyale Leser und ist für einen großen Teil des Umsatzes verantwortlich. Trotzdem lähmt die Ausrichtung auf Print viele Prozesse:

Today, department heads and other coverage leaders must organize much of their day around print rhythms even as they find themselves gravitating toward digital journalism.

Die Schlussfolgerung ist die Rolle von Print deutlich zu reduzieren. Print wird weiter existieren, es ist aber ein „Werbekanal“. Digital gibt die Prozesse vor, Print orientiert sich daran. Konkret wird für Print ein Hub eingerichtet, der sich (a) bei bestehenden Artikeln bedienen kann und einige Print-only Artikel schreibt. Der Kanal steht gleichberechtigt neben digitalen Ablegern wie der Kochseite. Nix Multi-Channel. Digital mit verschiedenen Ablegern, von denen Print einer ist.

Geschwindigkeit ist Trumpf

Ich möchte das Zitat der Group 2020 zur Geschwindigkeit von Digitalisierung hervorheben.

The digital revolution, however, has not stopped. If anything, the changes in our readers’ habits — the ways that they receive news and information and engage with the world — have accelerated in the last several years. We must keep up with these changes.

Wer glaubt, dass das Tempo der Digitalisierung von Prozessen und Unternehmen weniger wird, der irrt.

Was heißt das für alle anderen?

Wie gesagt: der Text ist das Beste, was ich seit langem zur Zukunft der Medien gelesen habe. Klar und schlüssig. Die angesprochenen Punkte gelten in meinen Augen auch für andere Unternehmen, die von der Digitalisierung betroffen sind. Also alle. Was können Takeaways sein?

(1) [inlinetweet]Das Geschäftsmodell von heute verdient in 10 Jahren nicht mehr unbedingt Geld.[/inlinetweet] Das heißt, Unternehmen müssen schon heute etablierte Prozesse umstellen, auch wenn es zu Lasten der jetzigen Umsatzbringer geht (Print). Eine Umstellung aller Unternehmensprozesse von heute auf morgen klappt nicht ohne Anlauf-/Lernphase. Marcel Weiß brachte in den Exchanges das Beispiel von Uber und Mercedes. Bei Autos wird das Besitzen heute weniger wichtig als das Nutzen. Damit wird der Kundenzugang von Uber & Car2Go zunehmend wichtiger, die Marke des Autos zunehmend unwichtiger. Das wird Margen aus der Automobil-Industrie nehmen. Mercedes & Co müssen sich schon heute über einen direkten Kundenkontakt bemühen, um nicht in die reine Zulieferrolle gedrängt zu werden.

(2) Ohne die richtigen Leute, diejenigen die im digitalen Zeitalter groß geworden sind, kann eine Umstellung nicht gelingen. Und ich muss mir über meinen Kern, Prozesse und verfügbare Daten Gedanken machen. Alex Graf schreibt von „Code und Data“ als Basis eines E-Commerce Geschäftsmodells. Was ist die Basis von eurem Geschäftsmodell?

(3) Und zum Schluss: die Uhr tickt. Für die Times und für alle anderen Unternehmen. Die Digitalisierung wird noch mehr Geschwindigkeit aufnehmen. Und ob die Vorhersagen der Group 2020 erst in 2020 oder schon vorher eintreffen, werden wir sehen.

Fotoquelle: unsplash.com/@amadorloureiroblanco


E-Commerce Junkie seit 2006 | Freund von Digitalisierung, Automatisierung und guten Online-Strategien

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