Mehr Chaos wagen – Unternehmen als Desire Path
Dieser Vortrag ist im Rahmen des TED Programms der Otto Group entstanden, einem Trainingsprogramm für ausgewählte Führungskräfte. Er beinhaltet die Erfahrungen von fünf Tagen Berliner Startup-Welt. Vor allem ist es aber mein Blick auf Organisationen in einem dynamischen Marktumfeld, auf die Aufgabe von Führungskräften in der heutigen Zeit und darauf, was Menschen motiviert. Organisationen brauchen mehr Chaos!
Der Text bezieht sich auf die Otto Group, gilt für andere Unternehmen aber ebenso. Und: vielen Dank an Kristine Kiwitt für die Sketchnotes zum Talk.
Warum arbeite ich seit 9 Jahren für die Otto Gruppe? Am Anfang dachte ich: nach max. drei Jahren bin ich weg. Vielleicht auch nur nach einem Jahr, der Vertrag war befristet. Ich blieb, weil ich selbstbestimmt an Dingen arbeiten konnte, die Spaß machen. Diese Entscheidungsfreiheit hat mich motiviert.
Ein ähnliche Umgebung sah ich bei IXDS in Berlin. Von Projektauswahl bis Gewinnverwendung – in der Serviceagentur arbeiten die Mitarbeiter selbstbestimmt unter minimaler Führung.
Die Wissenschaft hat sich ebenfalls der Frage angenommen: was motiviert Menschen? Der kanadische Psychologe Sam Glucksbergs führte in den 60ern ein Experiment durch: Zwei Gruppen bekommen dieselbe Aufgabe, die eine kreative Lösung erfordert. Eine Gruppe bekommt für die Lösung Geld angeboten, die andere Gruppe nichts. Das Spannende: die Gruppe ohne Geld löste das Problem schneller. Menschen sind motiviert durch Autonomie, Sinnhaftigkeit der Arbeit und dem Wunsch zu Lernen – nicht über Geld.
Was heißt für die OTTO Group? E-Commerce ist komplex und erfordert kreative Lösungen. Dafür brauchen wir maximale Entfaltungsmöglichkeiten für jeden Mitarbeiter.
Die Aufgabe von Führung reduziert sich auf das Herausfordern von Mitarbeitern und Einschwören auf gemeinsame Ziele. Vor allem: Geh aus dem Weg und vertraue! Eine Alternative zum Vertrauen existiert doch nur theoretisch. Die Idee, dass am Ende das Richtige herauskommt, wenn man jeden Tag alles kontrolliert, ist eine Illusion. Wir reden über ein „selbstorganisiertes Netzwerk“ als Organisationsform der Zukunft. Mitarbeiter organisieren sich selber und suchen Aufgaben selber.
Gleichzeitig braucht der Mensch Sicherheit und Struktur. Permanentes Chaos überfordert jeden.
Ein Gedankenexperiment: Januar 2018. Ein grauer Montagmorgen. Ihr alle kommt zur Arbeit. Jede Etage ist leer. Keine grauen Trennwände mehr, keine Abteilungen. In der Mitte jeder Etage ein großer Berg mit Tischen, Stühlen und Notebooks. Keine Führungskraft ist anwesend. Es gibt nur das Leitbild der Otto Group auf einem großen Plakat in der Mitte des Raumes. Die Aufgabe: bringt uns zu diesem Ziel. Was würde passieren? Ich glaube folgende Dinge würden passieren:
- es finden sich neue Teams, Abteilungen und Bereiche
- neue Prozesse und Kommunikationswege entstehen – Personen, die früher nie miteinander gesprochen haben, sprechen
- bald bilden sich Hierarchien – nicht von außen vorgegeben, sondern informell. Führungsqualität zeigt sich, wenn jemand im Team häufig einbezogen und dessen Meinung berücksichtigt wird.
- Leitplanken und einprägsame Regeln entstehen. Bei Entscheidungen, die das Unternehmen gefährden könnten – wie ein Torpedo ein Schiff -, sprecht vorher mit den Kollegen.
Eine Phase des Chaos gefolgt von einer Phase der Struktur. In der Phase des Chaos entstehen sprunghafte Innovationen – Innovationen, die aus reiner Prozessverbesserung nicht entstanden wären. In der Phase der Struktur, mit Hierarchien und Leitlinien, werden neue Ideen verfeinert und Prozesse effizienter.
Landschaftsgärtner in Finnland arbeiten bereits nach dieser Methode. Sie heißt „Desire Path“. Jedes Jahr, wenn der erste Schnee fällt und Wege verdeckt werden, beobachten sie wie die Menschen laufen. Alte Pfade sind verdeckt, neue Pfade entstehen. Pfade, die Menschen besser zum Ziel bringen. Diese Wege im Schnee werden aufgenommen und ausgewertet. Im Frühjahr werden neue Wege nach den Erkenntnissen des Winters ergänzt, alte Wege verschwinden – sie werden nicht mehr gebraucht.
Lasst uns Organisationen als „Desire Path“ denken. Alles ist temporär. Alle zwei Jahre kommt der finnische Schnee und macht alle Abteilungen, Prozesse und Kommunikationspfade unsichtbar. Auf schneeweißer Fläche entsteht ein neues Unternehmen, das von Mitarbeitern für die Anforderungen der heutigen Zeit aufgebaut wird. Führung ist in dieser Welt immer temporär angelegt. Eine Führungskraft bleibt Führungskraft bis zum nächsten Schneefall. Dann schauen wir weiter. Eine Phase des Chaos gefolgt von einer Phase der Struktur.
Was können wir heute machen, um diesen regelmäßigen Schneefall zu forcieren? Eine Sache: Löscht Meetings und Routinen, die vor mehr als 2 Jahren erstellt wurden, aus dem Kalender. Stoppt Prozesse, die seit zwei Jahren unverändert laufen – und denkt diese neu.
Schneefall bringt etwas Reinigendes mit sich. Auf weißer Wiese neue Wege im Schnee zu hinterlassen ist eine hohe Form der Selbstbestimmung. Stellt Euch Euren Desire Path vor. Zeichnet diese nach!
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Schönes Bild: öfter mal den „finnischen Schnee“ über Abteilungen, Prozesse und Kommunikationspfade fallen lassen – und radikal neu denken!
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